Unabhängig voneinander wandten sich innerhalb weniger Wochen mehrere Angehörige aus verschiedenen Teilen Deutschlands und aus Griechenland an die Gedenkstätte, um das Schicksal von Heinrich Biester aus Hannover-List zu klären. Christiane Riechers kam zur gleichen Zeit über eine Fotoausstellung in St. Nicolai Lüneburg mit dem Thema in Berührung. Ihr Großvater Heinrich Mund war als Pastor von St. Nicolai ab 1906 der Anstaltsseelsorger, auch noch während der NS-Zeit. Mit dem Kontakt zur Gedenkstätte verband sie zunächst, Notizen in seinem Tagebuch besser einordnen zu können. Dann kamen ganz unverhofft die Fragen nach Heinrich Biesters Schicksal hinzu. Bei einem Familientreffen in der ehemaligen Tötungsanstalt tauschte die Familie Fotos und wertvolle Kindheitserinnerungen aus. Christiane Riechers fragte sich, wie viel ihr Großvater als Pastor wohl gewusst haben mag und wollte bei der Aufklärung mithelfen.
CHRISTIANE
RIECHERS
Heinrich Biester
Heinrich Biester wurde am 27. März 1901 in Hannover-List geboren. Er hatte fünf Geschwister. Nach dem Abitur machte er zunächst eine Ausbildung, sammelte in verschiedenen Agrar-Betrieben Berufserfahrung und fing an in Göttingen Landwirtschaft zu studieren, um später den Hof der Familie übernehmen zu können. 1924 wandte er sich davon ab. Er entschied, Musik und Gesang zu studieren, unter anderem in Wien. Dort erkrankte er psychisch und kehrte auch deshalb Weihnachten 1926 in sein Elternhaus nach Hannover-List zurück.
Da sich sein Gesundheitszustand nicht besserte, wurde er am 29. März 1927 in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg aufgenommen. Sein Onkel, Pastor Heinrich Mund Senior, war dort seit 1906 Anstaltsseelsorger und übernahm fortan Heinrichs Fürsorge. Als zwei Tage nach der Aufnahme Heinrich Biesters Mutter Adolphine Biester verstarb, isolierte er sich noch mehr. 1938 versuchte er sogar, sich selbst zu töten. Obwohl sein Gesundheitszustand auch in den Folgejahren unverändert blieb, begleitete er die Gottesdienste seines Onkels mit Geige und Gesang.
Am 23. April 1941 wurde Heinrich Biester in die Zwischenanstalt Herborn und von dort am 21. Mai 1941 in die Tötungsanstalt Hadamar verlegt. Sein Onkel Heinrich Mund erfuhr eine Woche nach der Verlegung, dass sein Neffe zu den Deportierten gehörte. Der Ärztliche Direktor Max Bräuner beruhigte ihn jedoch mit den Worten, die Verlegung stehe im Zusammenhang mit der Ankunft von 475 Patientinnen und Patienten aus Hamburg, für die Betten in der Anstalt benötigt würden. Obwohl Pastor Mund dennoch befürchtete, dass Heinrich Biester Opfer der »Euthanasie« werden könnte, unterblieb ein Rettungsversuch.
Am 12. Juni 1941 erhielt die Familie von Heinrich Biester und somit auch Pastor Mund die Sterbemitteilung. Die offizielle Todesursache lautete »perforiertes Magengeschwür und Bauchfellentzündung«. Tatsächlich wurde Heinrich Biester im Rahmen der »Aktion T4« ermordet. Davon ging nun auch die Familie aus. Neben Empörung empfand Pastor Mund den Tod seines Schützlings zugleich als »Erlösung«.
2019 wurde Heinrich Biester vor dem ehemaligen Badehaus am Wasserturm auf dem Gelände der Psychiatrischen Klinik Lüneburg ein Stolperstein verlegt.
Foto von Heinrich Biester aus seinem am 13. April 1926 ausgestellten Reisepass.
Privatbesitz Heide Biester.
Gruppenfoto der Familie Biester, ca. 1908. Heinrich Biester ist der Dritte
von rechts.
Privatbesitz Christiane Riechers.
Der Trostbrief, den die Familie Biester aus Anlass von Heinrichs Tod erhalten hat. Ausgestellt wurde der Brief am 12. Juni 1941 von der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Hadamar.
Privatbesitz Christiane Riechers.
Wir erinnern mutig