Mario Nitzsche betreibt Ahnenforschung. Er lebt in einem Haus, das seit über 120 Jahren im Familienbesitz ist, und hütet alle Dokumente und Fotos seiner Vorfahren. 2013 informierte ein Internetportal ihn, dass es jemanden gäbe, der das gleiche Portal nutze und einen nahezu identischen Familienstammbaum aufgebaut habe – ob man vielleicht verwandt sei? So erfuhr Mario Nitzsche, dass er entfernte Familie in Kanada hat. Und der kanadische Familienzweig erfuhr, dass es noch in Deutschland lebende Verwandte gibt. Helmut (Hank) Lorenz flog daraufhin nach Deutschland, um Mario damit zu beauftragen, seinen 1944 auf der Flucht verlorenen jüngeren Bruder Dieter Lorenz zu finden. Und das tat er. Mario Nitzsche fand heraus, dass Dieter in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg zu Tode gekommen war und nahm Kontakt mit der Gedenkstätte auf. Auf diese Weise erfuhr Hank Lorenz nach über 70 Jahren, dass sein Bruder ermordet wurde, weil niemand bereit war, den Anstaltsaufenthalt des zweieinhalbjährigen Flüchtlingskindes aus den Niederlanden zu bezahlen.
MARIO
NITZSCHE
DIETER LORENZ
Dieter Lorenz wurde am 26. Februar 1942 in Eindhoven in den Niederlanden geboren. Er hatte zwei ältere Brüder, Rolf und Helmut. Der Vater, Erich Lorenz, wurde aufgrund seiner deutschen Staatsbürgerschaft 1944 zum Wehrdienst eingezogen. Die Mutter, Anna Lorenz, von Beruf Apothekerin, musste fortan alleine das Werkzeuggeschäft ihres Mannes weiterführen. Dieter hatte infolge einer Hirnhautentzündung eine Entwicklungsverzögerung. Da die Mutter sich aufgrund ihrer neuen Aufgaben im Geschäft zunächst nicht mehr genügend um ihn kümmern konnte, kam Dieter vorübergehend in ein Kinderheim.
Das Heim wurde ohne Mitteilung an die Eltern am 5. September 1944 evakuiert. Dieter Lorenz kam mit einem für die Flüchtlinge der Westfront eingesetzten Sonderzug über die Zwischenstationen Solingen und Hannover nach Lüneburg. Dort brachte man ihn in einem Auffanglager für unbegleitete Flüchtlingskinder in der Lüneburger »Hasenburg« unter. Eine Schwester der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), die die Kinder betreute, gab an, dass Dieter behindert sei, sodass er am 28. November 1944 in die »Kinderfachabteilung« Lüneburg eingewiesen wurde.
Die Eltern suchten Dieter, und obwohl die Gauleitung bereits am 2. Dezember 1944 wusste, dass sich der Zweieinhalbjährige inzwischen in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg befand, wurden die Eltern darüber nicht informiert. Dieter wurde kaum zwei Wochen nach seiner Ankunft in der »Kinderfachabteilung« ermordet, weil die Stadt Lüneburg sich nicht rechtzeitig dazu entschließen konnte, den Aufenthalt des angeblich elternlosen Kindes zu bezahlen. Dieters offizielle Todesursache lautete Lungen- und Rippenfellentzündung. Erst am 22. Februar 1945 erhielt Anna Lorenz die Nachricht, dass ein Kind namens Dieter Lorenz am 14. Dezember 1944 in der Lüneburger Heil- und Pflegeanstalt gestorben sei. Diese Nachricht beendete die verzweifelte Suche der Eltern nach ihrem Kind.
Die Familie Lorenz wanderte 1952 nach Kanada aus. Beide Söhne erfuhren nichts vom Schicksal des Bruders. Da Dieter Lorenz als niederländisches Flüchtlingskind galt, setzte die Friedhofsverwaltung sein Grab Anfang der 1950er Jahre auf die Kriegsgräber-Liste. Es existiert bis heute auf dem Friedhof Nord-West.
Dieters Bruder Helmut (Hank) und ein Großcousin nahmen nach vielen Jahrzehnten die Suche nach Dieter wieder auf. Sie erfuhren erst 2014 von den Todesumständen und von der Existenz des Grabes.
2019 wurde für Dieter auf Wunsch des Bruders vor dem ehemaligen Badehaus auf dem Gelände der Psychiatrischen Klinik Lüneburg ein Stolperstein verlegt.
Rolf, Dieter und Helmut Lorenz in Eindhoven, ca. Frühjahr 1943. Die Jungs schoben ihren kleinen Bruder immer in einem Wägelchen durch die Nachbarschaft.
Privatbesitz Helmut Lorenz.
EFamilienfoto mit Dieter, Rolf und Helmut Lorenz (Vordergrund von links nach rechts), Aenne und Erich Lorenz dahinter und ganz hinten Heinrich Wilhelm Vennemann, Dieters Großvater, ca. Herbst 1942.
Privatbesitz Helmut Lorenz.
Wir erinnern mutig